Vorweg: Das folgende Essay entstand im Rahmen meines Masterstudiums „Interkulturelle Personalentwicklung und Kommunikationsmanagement“ in einem Seminar zur Konzeptionierung und Methodik von interkulturellen Trainings. Folgende Streitfrage wird hierbei beantwortet:
„Antirassismus-Trainings“ sollten nicht als solche betitelt werden, da das Konstrukt „Rasse“ nicht existiert.” Diskutieren Sie diese Aussage und formulieren Sie, wenn nötig, alternative Veranstaltungsnamen.
Sollten „Antirassismus-Trainings“ als solche betitelt werden, obwohl das Konstrukt „Rasse“ nicht existiert? Wenn nein, gibt es Alternativbenennungen, die sinnvoll sind? Um diese Frage in ihrer Komplexität hinreichend diskutieren zu können, sind aus meiner Sicht zwei konstruktivistische Grundannahmen von zentraler Bedeutung:
- Sprache ist konstruiert, schafft Realitäten und beeinflusst das Denken. Sie existiert nicht kontextlos und ist geprägt von ihrer eigenen Historizität.
- „Rassen“ sind als diskursive Konstruktionen und nicht als „natürliche“ Gegebenheiten zu verstehen. Im Prozess des Rassifizierens, also dem Unterscheiden von Menschen in Gruppen, handelt es sich beim „Rasse“-Begriff um ein Legitimierungsinstrument zur Herrschaft von Menschen über Menschen (Mecheril und Melter 2010, S. 151–153).
Wir leben in einer Zeit, in der die Hypothese von eindeutig abgrenzbaren Menschenrassen aufgrund ihrer biologischen Merkmale längst widerlegt zu sein scheint. Eine Aufrechterhaltung des Wortes „Rasse“ berge daher die Gefahr, dass die Unterteilung von Menschen weiterhin geduldet, manifestiert und reproduziert wird. Entsprechend könnte das Ersetzen des Wortes ein Stück weit zum Ende von Rassismus beitragen bzw. dessen Vergegenständlichung verhindern. Weitgehend ist es bereits gesellschaftlich verpönt, dieses „Rassedenken“ weiterhin zu tragen. Erneut entflammte diesbezüglich die Debatte, ob das Wort „Rasse“ aus dem Grundgesetz gestrichen werden soll (Regierung für Streichung von „Rasse“ 2020). Wozu auch ein Wort aufrechterhalten, dessen Inhalt nicht existiert? Die Antwort auf die Frage lässt sich mit einem kurzen Zitat erahnen:
„Race does not exist. But, it does kill people.”
(Colette Guillaumin 1999, S. 46)
Nicht die tatsächliche Existenz, sondern der Glaube an die Existenz von Menschengruppen ist von zentraler Bedeutung für die Diskussion. Obgleich das, was das Wort „Rasse“ abzubilden versucht nicht „wirklich“ existiert, bleiben die Mechanismen, Strukturen und Gedanken aus den Zeiten, an denen an dieses Bild geglaubt wurde, erhalten. Menschen denken in und glauben an Kategorien – sie rassifizieren. Hierbei ist „Rasse“ keineswegs mit „Rassismus“ gleichzusetzen. Ersteres ist als Ergebnis des letzteren zu betrachten. Schlussendlich ist es auch der Rassismus, der Rassen konstruiert – nicht umgekehrt (Mecheril und Melter 2010, S. 151–153,168–169). Auch ohne das Wort „Rasse“ würde Rassismus bzw. Rassifizieren bestehen, er würde nur andere Wege der Bezeichnung und Erklärung finden, beispielsweise in Kultur oder Religion. Konsequenterweise soll es aus dem Grundgesetz auch nicht durch Umschreibungen wie „ethnische Zugehörigkeiten“ oder „Kultur“, sondern durch „rassistisch“ ersetzt werden (Regierung für Streichung von „Rasse“ 2020). Es verschiebt den Diskurs damit von der Struktur- zur Prozessperspektive.
Fest steht, wir können Rassen nicht hinter uns lassen, solange das zugrundeliegende Phänomen in der Gesellschaft noch tief verankert ist. Aktuelle Diskussionen über „Racial Profiling“ und jüngste Geschehnisse in den USA und Deutschland – Stichwort George Floyd, Jacob Blake und Hanau – zeigen eindrücklich, dass wir den Punkt eines post-rassistischen Zeitalters bei weitem noch nicht erreicht haben. Im schlimmsten Fall führt der Ersatz oder die Umschreibung von Rassenkonstruktionen dazu, dass der Diskurs über Rassismus, Macht- und Herrschaftsverhältnisse erschwert wird (Roig 2017, S. 626). Ebenso nimmt es ohne Ersatz den Betroffenen von Rassismus eine Möglichkeit, um über ihre Erfahrungen zu sprechen und sie zu reflektieren. Es zeigt sich also: Die „objektive“ Nicht-Existenz von Rassen kann nicht gleichgesetzt werden mit dem Denken und Handeln in Rassekonstruktionen oder Rassismus als solches. Um „Rassen“ nachhaltig und sinnvoll aus dem Wortschatz verbannen zu können, muss zuerst der Rassismus in der Gesellschaft aufgebrochen werden. Dies kann jedoch nur passieren, wenn Menschen sich ihm in der Gesellschaft und in sich selbst bewusstwerden.
Die Frage ist: Lässt sich Rassismus auch reflektieren und aufbrechen, ohne das Wort selbst im Trainingstitel aufzugreifen? Verständlicherweise ist das Wort insbesondere in Deutschland ein stark beladenes und polarisierendes. Mit ihm wird der Holocaust und dessen strukturelle Vernichtung von Menschen aufgrund von Zuschreibungen verbunden. Es scheint sich als ein Artefakt zur Bezeichnung rechtsradikaler und -populistischer sowie nationalsozialistischer Randgruppen in ihren konkreten Anfeindungen festgesetzt zu haben. Diese Auffassung erschwert folglich auch einen Diskurs über gesamtgesellschaftliche Strukturen und eigene rassistische Anteile, schließlich möchte man nicht mit ihnen auf einer Stufe stehen. Doch welche Alternativen gibt es sonst noch? Titel mit den Stichworten „Inklusion/Diversity/Vielfalt“ oder „Interkulturalität“ sind nicht zureichend präzise oder ausdrucksstark und treffen nicht die Essenz dessen, was „Rassismus“ inkorporiert, insbesondere bezüglich der Reflexion von Macht- und Herrschaftsverhältnissen in der Gesellschaft. Hinzu implizieren sie selbst in Teilen Konstruktionen von Gruppen (Roig 2017, S. 623–625). Noch weniger geeignet sind Titel, die „Fremdheit“ einschließen, beispielsweise „Training im Umgang mit Fremden(feindlichkeit)“, da diese noch mehr als die anderen automatisch „Othering“ durch imaginierte Fremd- und Eigenbilder produzieren. Ebenso zielt „Fremdenfeindlichkeit“ in Abgrenzung zu Rassismus primär auf individuelle, direkte Feindseligkeiten gegenüber Menschen und weniger auf strukturelle Machtverhältnisse. Es erscheint falsch, all diese mindestens anteilig ungeeigneten Begriffe ersatzweise zu benutzen, nur um der starken Konnotation von „Rassismus“ auszuweichen und niemandem auf die Füße zu treten. Stattdessen sollte der Rassismusbegriff selbst neu definiert werden. Er darf nicht mehr als Randphänomen verstanden werden. Um ihn präzise beschreiben und greifbar machen zu können, bedarf es aus meiner Sicht auch das Wort „Rassismus“, sowohl im Allgemeinen als auch in entsprechenden Veranstaltungstiteln.
Offen bleibt, ob folglich auch der Titel „Antirassismus-Training“ die passende Bezeichnung für Veranstaltungen ist, die rassistische Strukturen, Handlungen und Gedanken ganzheitlich aufdecken, kritisch reflektieren und dekonstruieren wollen. Aus einer rassismuskritischen Perspektive geht es in den Trainings darum Räume zu schaffen, in denen Rassismus nicht als individuelle Schwäche oder Versagen, sondern als ein Denk- und Verhaltensmuster, in das wir alle eingewoben sind, aufgefasst wird (Mecheril und Melter 2010, S. 172). Erst wenn dieses Ziel erreicht ist, lässt sich über Möglichkeiten zum Handeln und Verantwortung übernehmen sprechen, was den Rassismus letztlich aufbrechen kann. Die Bezeichnung „Antirassismus-Training“ erschwert das Erreichen dieses Ziels aus mehreren Gründen: Ihr immanent ist das Ziel „gegen“ etwas zu sein, konkret gegen die Diskriminierung von Menschengruppen aufgrund bestimmter Merkmalszuschreibungen. Dies ist problematisch, da Zuschreibungen wie „Schwarz“ oder „weiß“ hingenommen und nicht hinterfragt werden. Im schlimmsten Fall werden Rassekonstruktionen fortgeschrieben und bestätigt (Thoma und Knappik 2015, S. 96). Insgesamt sind häufige Kritikpunkte am Antirassismusbegriff: (1) ein Moralismus aus der Annahme zu wissen, was das „Richtige“ und was das „Falsche“ ist, gegen das sich das Training richtet, (2) ein Essentialismus, der eine benachteiligte, herabgesetzte Opfer- sowie eine handlungsfähige, rassistische Tätergruppe konstruiert und gleichzeitig andere Differenzen wie Geschlecht oder Klassen vernachlässigt sowie (3) ein Reduktionismus von Gründen des Rassismus auf vermeintliche Vorurteile oder ökonomische Gewinnmaximierung in Verbindung mit vermeintlich einfachen Problem- und Lösungsperspektiven (Mecheril und Melter 2010, S. 170–172). All dies führt zu der Schlussfolgerung, dass auch mit „Antirassismus“ kein ausreichend geeigneter Veranstaltungstitel gefunden ist. Eine Umbenennung erscheint daher sinnvoll bezüglich des Präfixes „Anti“, nicht aber bezüglich „Rassismus“.
Zusammenfassend zeigt sich, dass die Ansprüche an einen passenden Veranstaltungstitel extrem hoch sind, selbst ohne genauere Betrachtung der Inhalte. Der Titel muss präzise sein, aber gleichzeitig nicht einengend. Er sollte keine falschen Hoffnungen wecken, dass Rassismus leicht zu überwinden sei oder dass man selbst keine Anteile daran habe, aber er sollte auch nicht vermitteln, dass ein Kampf gegen Rassismus aussichtslos ist. Er darf in sich selbst keine Rassekonstruktionen beinhalten, aber auch nicht dessen Existenz in der Gesellschaft verkennen. Und nicht zuletzt sollte – damit man nicht immer „gegen“, sondern auch „für“ etwas eintreten kann – darüber nachgedacht werden, wie man den erstrebenswerten Zustand nennen möchte, der nach der Überwindung von Rassismus folgt. Bis dahin stelle ich folgende Titel zur weiteren Debatte:
- „Über Rassismus sprechen lernen“,
- „Rassismus erkennen und überwinden“,
- „Rassismuskritisches Bewusstsein und Handeln entwickeln und stärken“.
Literaturverzeichnis
Guillaumin, Colette (1999): „I Know It‘s not Nice, but …”. The Changing Face of Race. In: Toress, Rodolfo D.; Mirón, Louis F.; Inda, Jonathan Xavier (Hg.): Race, Identity and Citizenship. Oxford: Blackwell, S. 39-47.
Mecheril, Paul; Melter, Claus (2010): Gewöhnliche Unterscheidungen, Wege aus dem Rassismus. In: Sabine Andresen, Klaus Hurrelmann, Christian Palentien und Wolfgang Schröer (Hg.): Migrationspädagogik. Weinheim, Basel: Beltz Verlag (Studium Paedagogik), S. 150–178.
Regierung für Streichung von „Rasse“ (2020). In: Tagesschau, 12.06.2020. Online verfügbar unter https://www.tagesschau.de/inland/gruene-grundgesetz-rasse-streichen-103.html, zuletzt geprüft am 28.08.2020.
Roig, Emilia (2017): Uttering „race“ in colorblind France and post-racial Germany. In: Karim Fereidooni und Meral El (Hg.): Rassismuskritik und Widerstandsformen: Springer Fachmedien Wiesbaden, S. 613–628.
Thoma, Nadja; Knappik, Magdalena (Hg.) (2015): Sprache und Bildung in Migrationsgesellschaften: transcript-Verlag.
Über Van
Van gehört zum Jahrgang 97 und studiert im Master „Interkulturelle Personalentwickung und Kommunikationsmanagement“ in Jena. Sie ist die Tochter von zwei Menschen, die vor über 30 Jahren aus Vietnam über Tschechien als Vertragsarbeiter:innen und schlussendlich nach Deutschland kamen. Sie ist die jüngste von drei Schwestern. Sie ist ein „Gastrokind“ (ihre Eltern besitzen ein „Asia“-Restaurant auf dem Dorf).
Kurz: Sie fühlt sich durch und durch Vietdeutsch. Sie ist auf ihrem Weg Trainerin für rassismuskritische Bildungsarbeit zu werden.