Zeit zur Revolutionierung des Integrationsverständnisses
Seit meiner Ankunft in Deutschland höre ich ständig das Wort „Integration“ oder den Satz „Du solltest dich hier integrieren, um gut und problemlos leben zu können“. Ehrlich gesagt wusste und weiß ich immer noch nicht, was unter diesem Begriff zu verstehen ist, der in allen Mündern ist. Eins weiß ich aber sicher, dass ich wie alle geflüchteten Menschen der Hauptgegenstand des Integrationsfeldes bin, aber gleichzeitig der passive Teil in der Integrationsdebatte. Leider geschieht es selten, dass geflüchtete Menschen selbst zu Wort kommen, damit sie ihre Meinung als Hauptakteur:innen über die Integration(-sdebatte) äußern können. Einer der Gründe dafür liegt meines Erachtens in der öffentlichen Wahrnehmung des Integrationsverständnisses bzw. der Integrationsgeschichte seitens der Mehrheitsgesellschaft. Lange Zeit bzw. bis heute geht man von der Selbstverständlichkeit der Antworten auf die folgenden Fragen aus, wie „Was ist Integration?“, „Wer soll sich überhaupt integrieren?“, „Wozu soll man sich integrieren?“, „Wer hat eigentlich das Recht, die Integration zu definieren?“ oder „Wann ist man integriert?“. In diesem Zusammenhang ist die Integrationsfrage eine Frage der Machtressourcen und -verhältnisse, durch welche das Integrationsverständnis in den politischen sowie gesellschaftlichen Diskursen von der einseitigen Vorstellung der privilegierten Mehrheitsgesellschaft bestimmt wird. Dies führte und führt selbstverständlich dazu, dass über und nicht mit geflüchteten Menschen bezüglich der integrationsbezogenen Felder geredet wurde bzw. wird. Darüber hinaus hat sich die deutsche Politik lange Jahre geweigert, Deutschland als ein Einwanderungsland zu sehen, wodurch der Status von Menschen mit Migrationsgeschichte aufgrund ihrer Nicht-Zugehörigkeit zur einheimischen Gesellschaft negativ beeinflusst wurde.
Betrachtet man die deutsche Integrationsdebatte, stellt man fest, dass sie sich hauptsächlich auf zwei Punkte fokussiert. Der erste Punkt besteht darin, dass Menschen mit einer Migrationsbiografie die einzige Zielgruppe der Integrationspolitik sind, wodurch die „Migration“ und „Integration“ über die Kategorien „das Eigene“ und „das Andere“ definiert werden. Denn alle, die nicht als Teil des „Eigenen“ verstanden werden, sind automatisch integrationspflichtig, während die eigene Gruppe aufgrund der Machtverhältnisse das Bestimmungsrecht dazu hat, auf die anderen Gruppen zu zeigen und ihnen Integrationsbefehle und -hinweise zu geben. Der zweite Punkt ist, dass die integrationsbezogenen Diskurse politisch und teilweise ideologisch geprägt sind und sie in einer imperativen Form geführt werden, ohne die Involvierung der betroffenen Menschen. Diese Art der Aufforderung zur Integration schafft eine Atmosphäre, die mit Negativität und Misstrauen behaftet ist. Solche imperative Art der Integrationssprache zeigt deutlich die von der Mehrheitsgesellschaft wahrgenommene Andersheit der geflüchteten Menschen, ihrer Kultur, ihrer Sprache und ihrer Religion. Mit dieser Wahrnehmung entsteht eine Fremdmachung der „Anderen“, für deren Integration die Ergreifung von raschen Maßnahmen zur erfolgreichen Integration notwendig sei. Denn dadurch soll die angebliche Überfremdung vermieden und die kulturellen Werte des Abendlandes geschützt werden.
Die Vorstellung und das Gefühl zu haben, für den Integrationsprozess keine Bemühungen und Leistungen erbringen zu müssen bzw. von der Integration nicht betroffen zu sein, erzeugt ein Überlegenheitsgefühl gegenüber den sich um Integration zu bemühenden Menschen. Denn dadurch erhält man mühelos ein kostenloses Zugehörigkeitsticket zu der Gruppe, die die Macht und das Recht hat, eine erfolgreiche Integration zu definieren. Hier wird die Eigenbeschreibung als Basis für „richtig“ und „falsch“, „eigen“ und „fremd“, „deutsch“ und „nichtdeutsch“ verstanden. Darüber hinaus dient das Gefühl des Nichtintegrationsbedürfnisses einerseits der Konstruktion einer dominanten Selbstheit, einer nationalen Identität sowie der Homogenisierung der Eigengruppe, die als „Abstammungsgemeinschaft“ zu verstehen ist. Andererseits wird die Identität aller Menschen mit Migrationsbiographie homogenisiert und sie als ein definiertes Kollektiv wahrgenommen, welches aufgrund ihrer Migrations- und/oder Fluchtgeschichte sich zu integrieren hat. Solche Homogenisierungstendenzen sind oft in der Integrationsdebatte zu sehen, wodurch die Identität der Menschen mit einer Fluchtgeschichte von der Mehrheitsgesellschaft als essentialistisch betrachtet und somit die individuelle Identität jeder geflüchteten Person untergraben wird. Dies führt dazu, dass die Geflüchteten nicht als Menschen mit vielfältigen Lebensgeschichten und Identitäten wahrgenommen werden, sondern als Statistikzahlen, deren Zunahme als (kulturelle) Bedrohung für die Mehrheitsgesellschaft dargestellt wird.
Als geflüchtete Person, von der erwartet und verlangt wird, sich in die deutsche Gesellschaft, in die „deutsche“ Kultur und in die „deutschen“ Werte zu integrieren, möchte ich die folgenden Fragen stellen: Wieso denken wir lediglich an die Menschen mit einer Migrationsbiographie und/oder einer Fluchtgeschichte, wenn die Rede von Integration ist? Sind alle deutschen Menschen ohne Migrationsbiographie automatisch integriert und somit von der geführten Integrationsdebatte nicht angesprochen? (Über die Beantwortung dieser Fragen würde ich mich sehr freuen J).
Wenn wir als Menschen in einer immer komplexer werdenden Welt gut zusammenleben wollen, ist aber eines unerlässlich: Wir sollten uns gegenseitig als Menschen anerkennen und uns auf gleicher Augenhöhe begegnen. Die gesamte Weltgesellschaft, übrigens auch die Gesellschaft in Deutschland, ist in einem dynamischen Entwicklungsprozess, der nie aufhören wird. Die eigene Kultur als Ort zu definieren, zu dem die Menschen sich integrieren sollen, zeigt die Essentialisierung, Dichotomisierung und Hierarchisierung von Kulturen, wobei wir genau wissen, dass die Kultur von Menschen gemacht wird; und sowohl die Menschen als auch die Kultur befinden sich in einem unendlichen Veränderungsprozess. Alle in Deutschland lebenden Menschen (und hier meine ich ALLE Menschen) sollten sich am Grundgesetz orientieren und sich in seine universalen Werte integrieren. Der dritte Artikel des Grundgesetzes betont die Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz. In diesem Zusammenhang sollte in der Gesellschaft die Wichtigkeit dessen betont werden, dass alle Menschen, mit oder ohne Migrationsgeschichte und/oder Fluchterfahrung sich um die Integration in das Grundgesetz bemühen sollen, denn die Orientierung am Grundgesetz stellt die Basis unseres friedlichen, demokratischen und gesellschaftlichen Mit- und Füreinanders dar. Darüber hinaus ist es von zentraler Bedeutung, dass man sich um die Integration in das Verstehen unterschiedlicher und vielfältiger kultureller, religiöser, sprachlicher und geschlechtlicher Lebensweisen von Menschen bemüht und dabei zugibt, dass diese vielfältigen Lebensidentitäten die Kraftquelle für unseren Zusammenhalt bilden. Mit diesem Integrationsverständnis sollen sich alle in Deutschland lebenden Menschen unabhängig von ihrem Herkunftshintergrund von einer Integration, die nicht auf einseitiger Anpassung basiert, angesprochen fühlen, sodass sich Jede:r an dieser Stelle fragen soll, ob man integriert ist.
Die Aufnahme von geflüchteten Menschen soll nicht als eine politische, wirtschaftliche, soziale oder kulturelle Herausforderung verstanden werden. Vielmehr sollte sie eine Chance für Deutschland darstellen, seine kollektive Identität weiterzuentwickeln.
Über Monzer
Mein Name ist Monzer Haider und „Grüß Göttle“ ist eines meiner Lieblingsworte, mit dem ich Menschen gerne begrüße. Ich verstehe zwar kein Schwäbisch, aber ich als syrisch-kurdischer Schwabe lebe gerne im Schwabenländle. Vor 8 Jahren kam ich als Geflüchtete nach Deutschland an. Seit meiner Ankunft beschäftige ich mich mit der „Integration“ und möchte ihr Verständnis revolutionieren. Dabei setzte ich mich für eine offene, tolerante und vielfältige Gesellschaft ein, in der jedes Individuum sich wohl fühlt und vertreten wird.