Ich komme aus einem Land, in dem die Leute bei Festen ihre hölzernen Stammesmasken zur Schau tragen und bei denen mit getrockneten Schweinedärmen um sich geschlagen wird, um kleine Kinder zu erschrecken. Durch die extreme Traditionalität sind Konflikte zwischen benachbarten Stämmen alltäglich, Hochzeiten von Paaren aus verschiedenen Dörfern oft verpönt. Die Leute sind größtenteils noch streng religiös und kehren manchmal freiwillig eine ganze Woche lang selbst die Straßen, Treppenhäuser und Gebäude. Zudem wird mit Geld sehr sparsam umgegangen, denn Geiz gilt als eine gerngesehene, weitverbreitete Tugend.
Richtig, ich komme aus dem Schwabenland. Um genau zu sein, aus einem kleinen Dorf, inmitten vieler anderer kleiner Dörfer, auf der Höhe der Schwäbischen Alb. Aufgewachsen bin ich also mit „Wurschtwecken“ und Omas selbstgemachten „Kässchpätzle“ oder Maultaschen, mit Volksfesten wie der „Fasnet“, der 5. Jahreszeit, so wie das Fest von Schwaben bezeichnet wird und dem stetigen, eingebläuten Drang überall, wo nur geht, zu sparen. Weniger gespart wird dafür mit sch statt s in der Aussprache.
Trotz all dieser Punkte, die ich erfülle, bin ich von den anderen Schwaben und Schwäbinnen nie als waschechte Schwäbin anerkannt worden. Ich merke es in dem Moment, wenn andere Mädchen meine Haare anfassen wollen, ich für mein gutes Deutsch gelobt werde oder Leute fast schon enttäuscht dreinschauen, wenn die Antwort auf die Frage woher ich komme, „aus dem Nachbarsdorf“ lautet.
Achtung, Plot Twist: Ich bin nämlich Schwarz. Und ä Schwarze Schwäbin? Ha schwätz mir doch kon Vesper in Sack. So eps gäits it! Zu hochdeutsch: Laber mir doch kein Pausenbrot in die Tasche, so etwas gibt es nicht. Schwarz und schwäbisch, das sind schon mal zwei grundlegende Dinge, die für die meisten Leute in meinem Dorf nicht zusammenpassen. (Mit Ausnahme der CDU Wahlergebnisse, welche die Fläche meines gebürtigen Landkreises schon seit Jahren auf Schaubildern der Deutschlandkarte schwarz färben. Aber damit hört der Zusammenhang der beiden Adjektive für die meisten auch schon auf).
Wenn Leute aus meinem Dorf sich ́nen richtigen Schwaben vorstellen, dann vielleicht ́nen Weißen Hannes, mit ́nem ordentlichen Bierbauch, auf‘m Traktor. Oder ne „Bretle“ (Plätzchen) backende Hannelore mit blonden Haaren, die sonntags zur Kirche geht und Hannes gerne auf‘m Acker hilft. „Schaffe schaffe, Häusle bauen!“ ist hier das Motto. Reichlich stereotypisch.
Als Kind einer deutschen, schwäbischen Mutter und eines nigerianischen igbo Vaters passe ich nicht in diese kleine Welt meines Dorfes.
Lange probiere ich es trotzdem durch Anpassung. Durch Kaschieren meines Schwarzseins. Obwohl ich zuhause lerne, mich auf Hochdeutsch auszudrücken, versuche ich das breiteste schwäbisch zu sprechen, folge den Trends und Meinungen anderer Kinder. Will einfach nicht mehr so auffallen, dazugehören. Aber das tue ich nicht. Wenn ich schwäbisch spreche, lachen die anderen Kinder mich aus. Meinen, das passt gar nicht zu einem Mädchen, das so aussieht wie ich. Wenn meine Mama mich vom Kindergarten oder der Schule abholt, werde ich oft gefragt, ob ich adoptiert sei. Auch meine Freunde und Freundinnen stellen mir oft mikroaggressive, rassistische Fragen wie „Kannst du überhaupt einen Sonnenbrand bekommen?“ oder „Wie sehen blaue Flecken an dir aus?“. Der Klassiker: „Sag mal, sprichst du eigentlich afrikanisch?“. Meine Haare müssen alle ständig anfassen und kommentieren. Das N-Wort höre ich zum ersten Mal in der Grundschule.
Die rassistischen Erfahrungen zeigen Wirkung: Ich beginne, mir noch in der Grundschule chemisch die Haare zu glätten, als Teenager gehe ich eine Zeit lang extra nicht zu lange in die Sonne. Ich will Weiß sein. Aussehen wie meine Mama. Blonde Haare, blaue Augen. Ich bewege mich innerhalb des internalisierten Rassismus, bei dem Schwarze Menschen den stereotypisch Weißen Lifestyle adaptieren. Weil ich hoffe, so passe ich rein, so wird mir endlich nicht mehr abgesprochen, dass ich wie die anderen, und dass ich Schwäbin bin. Aber trotzdem gehöre ich nicht dazu. Oft denke ich mir „wenigstens habe ich Glück und bin nicht ganz Schwarz, sondern nur braun“. Heute erschrecken mich diese Gedanken. Damals blieb ich mit diesen Gedanken weitestgehend allein. Die einzigen anderen Schwarzen Kinder im Dorf und auf der Schule sind jahrelang meine Geschwister. Ich wachse ohne meinen Vater auf. Schwarze Vorbilder gibt es lange nicht.
Mit wem soll sich ein kleines, Schwarzes, dann auch noch schwäbisches Mädchen also identifizieren, wenn Weißsein die Norm ist? Alle großen Figuren und Personen in meinem sozialen Umfeld, im Fernsehen, in Filmen, in Zeitschriften und Büchern, sowie in unserem Lehrplan, die ich bewundere, sehen nicht annähernd so aus wie ich.
Ab irgendeinem Punkt als Teenagerin denke ich mir, das Problem ist nicht der begrenzte Horizont und die rassistische Wahrnehmung der Menschen in meinem Dorf und der Umgebung, das Problem sind einfach Schwab*innen generell. Ich entscheide mich bewusst dagegen, schwäbisch zu sein, verpöne die Kultur und die Traditionen mit gleichdenkenden Freund*innen und wende mich immer mehr von meinen eigenen schwäbischen Wurzeln ab. Wenn ich Menschen von außerhalb oder aus größeren Städten treffe und ihnen erzähle, dass ich von der schwäbischen Alb komme, füge ich immer direkt hinzu: „Aber keine Sorge, ich bin nicht so eine Klischeeschwäbin“, oder „keine Sorge, ich bin nicht wie die anderen vom Dorf“. Nach jahrelangen Rassismuserfahrungen und Anpassungsversuchen drehe ich den Spieß um und lehne meine Identität als Schwäbin ab. Im Prinzip dämonisiere ich die Schwäbische Alb als Hochburg für Geiz, Unwissenheit und Diskriminierung.
Aber das Problem ist natürlich nicht das Schwäbisch sein oder das Schwabenland an sich, sondern struktureller Rassismus, der nach wie vor leider in ganz Deutschland herrscht. „Es gibt dieses Forschungsgebiet und einen Begriff, der als „symbolische Vernichtung“ bekannt ist, nämlich die Idee, dass, wenn man Leute wie sich nicht in den Medien sieht, die man konsumiert, man irgendwie unwichtig sein muss“, schrieb die Soziologin Nicole Martins. Durch das Auslassen von Schwarzen Menschen in ihrer authentischen Vielfalt gehen wichtige Geschichten verloren. Es fehlen nicht nur Vorbilder und Identifikationsfiguren für Kinder und Jugendliche, sondern auch ein Spiegel, der die Diversität und Komplexität unserer Gesellschaft zeigt. Diese fehlenden Geschichten über BIPOC sind relevant, denn sie haben einen Effekt auf unser Leben, darauf, wie wir andere Leute sehen und vor allem über uns selbst denken. Ohne gleichwertige Repräsentation in Medien, wie Filmen und Büchern habe ich das Gefühl von der Gesellschaft nicht gesehen oder gehört zu werden. Dadurch wird Kindern of Color häufig das Gefühl vermittelt, etwas stimme nicht mit ihnen. Genau wie ich irgendwann begonnen habe zu glauben, mein Schwäbischsein passe nicht zu mir, weil ich als Teenagerin keine anderen Schwarzen, weiblichen und schwäbischen Identifikationsfiguren besaß.
Mit 18 Jahren sehe ich zum ersten Mal in meinem Leben einen Superhelden-Film mit komplett Schwarzem Cast in nahbaren, starken und vielschichtigen Rollen. Die Rede ist von „Black Panther“, der 2018 von den Marvel Studios produziert wurde. Ein Film, dessen Riesenerfolg für die längst überfällige Notwendigkeit Schwarzer Superhelden spricht. Schwarze Superheld*innen, die die Schwarze Community schon eher gebraucht hätte. Die Aufmerksamkeit für die Repräsentation von Minderheiten hat seit meiner Kindheit zwar deutlich zugenommen und es gibt viele Beispiele dafür, dass Schwarze Schauspieler*innen, Autor*innen und Kunstschaffende nach dem F.U.B.U- Prinzip („For Us By Us“) vermehrt eigene Räume ergreifen. Wie beispielsweise das Ballhaus Naunynstraße in Berlin, Serien wie „Dear White People“ oder „Nola Darling“ und schwäbische Schwarze, wie Hadnet Tesfai und Teddy aka Tedros Teclebrhan. Das bedeutet aber nicht, dass Schwarze im deutschen Fernsehen auch nur ansatzweise häufiger oder anders vorkommen als in Stereotypen.
Wahrscheinlich hätten mich mehr Schwarze Figuren während meiner Kindheit nicht vor allen rassistischen Erfahrungen bewahrt, aber sie hätten auch Weißen Kindern das Wissen vermitteln können, dass man nicht unbedingt adoptiert sein muss, um als Schwarzes Kind eine Weiße Mutter zu haben und, dass Kinder of Color durch ihre Wurzeln nicht weniger Deutsch oder Schwäbisch sind. Solche Figuren hätten Vorbilder für mich sein können, bevor ich mir im echten Leben außerhalb der Schwäbischen Alb andere afro-deutsche Freunde und Freundinnen, und durch eigene Recherche Personen in Feldern wie Politik, Literatur, Journalismus oder in Hollywood suchen konnte, die keinem Stereotyp entsprechen und mit denen ich mich identifizieren kann.
Heute bin ich gerne Schwäbin. Und auch, wenn ich nicht hinter jeder Tradition und der grundsätzlichen Mentalität des Schwabenlandes stehe, kann ich die Werte, Normen und Erfahrungen, die mich mit dem Schwabenland und insbesondere dem Ort, in dem ich aufgewachsen bin, verbinden, besser annehmen. Zurück ins Schwabenland zu ziehen, kann ich mir aktuell bei Gottes Wille‘ nicht vorstellen. Aber ich hoffe, dass sich für kommende und gerade heranwachsende Generationen von BIPOC Schwäb*innen in Sachen Repräsentation und Zugehörigkeit vieles ändert. Denn jede*r verdient es, sich in eigenen Helden*innen, dem eigenen Umfeld und der eigenen Kultur wiederfinden zu dürfen. Das gilt auch für Schwarze Schwäbinnen.
Statt immer nur „Schaffe, schaffe Häusle baue ́“ könnte es im Schwabenland also ruhig mal heißen „Schaffe, schaffe Blick erweitern!“
Über Leah

Hey, ich bin Leah. Aufgewachsen bin ich auf der Schwäbischen Alb. Meine Mutter ist Deutsche, mein Vater Nigerianer. Ich studiere Literatur- und Politikwissenschaft in Berlin. Der strukturelle Abbau von Rassismus, Sexismus und Klassismus sind Herzensangelegenheiten für mich. Der Fokus meines Studiums und meines Engagements liegt deshalb vor allem auf der Intersektionalität dieser Diskriminierungsformen. Ich habe bereits früh als Kind meine Leidenschaft für Kreatives Schreiben entdeckt und versuche seit jeher dem Schreiben in Form von Lyrik, Prosa und journalistischen Texten im Alltag so viel Raum, wie möglich zu geben. Ich liebe das Meer, gutes Essen, Bücher, Musik, Sport, und schlechte Witze.